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Autor: David Gieselmann
Datum: 11.03.2007
Views: 3016
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Der Popticker hat sich in diese Platte verliebt

Der Popticker hat sich in diese Platte verliebt:
Camille - le fil

Hierzulande völlig unbeachtet hat die heute 27jährige Camille 2002 eine gewissermaßen traditionelle Chansonplatte veröffentlicht, "le sac des filles", die stilsicher auf unausgetretenen, ziemlich französischen Pfaden wanderte, und auf der in manchen Momenten die dreiste Genialität dieser ganz und gar großartigen Sängerin hervor blitzt etwa wenn sie ein Lied "Paris" nennt, und es singt, als wäre es das erste Lied über die französische Hauptstadt, das je geschrieben wurde. Daß ihrem neuen Album "le fil" nun auch hier mehr Aufmerksamkeit zuteil wird, liegt nicht nur an dem Boom der französischen Popmusik als solcher, wahlweise "le pop" oder "la nouvelle chansons" genannt, es liegt auch an dem überraschenden Erfolg einer Band, die sich "nouvel vague" nennt, und die auf ihrem gleichnamigen Album Wave- und Synthiepopklassiker der 80er Jahre als Easy Listening Songs coverten, und Camille singt eben bei nouvel vague. Eine nette Platte, aber gegen "le fil" verblasst sie.

"le fil" ("der Faden") ist die schönste und souveränste Platte der letzten Jahre, in diesem Jahrtausend ist bislang keine bessere erschienen. Der rote Faden der Platte, die "Faden" heißt, ist ein Moll Dreiklang mit Obertönen, geschichtet einzig und allein aus Camilles Stimme, und dieser Akkord bildet die Basis sämtlicher 13 Songs, von denen sich einer in drei Teilen auf der Platte verteilt. Überhaupt ist das Klangmaterial, aus dem Camille ihre Musik baut, vornehmlich ihre Stimme, hin und wieder also erinnert "le fil" an das reine Vokalalbum "Medulla" von Björk, (das sie, ich muß das auch als Björkfan so sagen, aber locker in die Tasche steckt), aber anders als die Isländerin nimmt Camille die Sache nicht so dogmatisch und benutzt ebenso Instrumente: Bass, Orgel, Gitarre, Klavier, Percussion. Ihre Stimme aber formt ebenso Melodielinien wie kleine Solos, geloopt geschichtet oft auch den Beat der Lieder, - manches groovt so relaxed daher, daß man mitwippt ("la douleur") und Camille formt mehrstimmige Chöre, deren Sätze allerlei augenzwinkernde Zitate bilden, Chöre, die die verschiedensten Funktionen innerhalb der Lieder einnehmen mal hört man die Beach Boys, dann wird es afrikanisch, plötzlich arabisch, mal türmen sich Stimmen wie in einer Oper, dann bleibt es trocken wie bei den Pet Shop Boys.

Daß Camille aus Genanntem eine derartig große Platte gemacht hat, liegt nun aber vor allem auch daran, daß sie eine phantastische Produzentin der eigenen Musik ist. Sie variiert innerhalb eines Liedes nicht nur Instrumentierung und Chorsatz, auch den Sound, die räumlichen Effekte. In "assise" beispielsweise braucht sie nichts weiter als eine Strophe, eine hinreißend schöne Melodie ohne Refrain, die sie zweistimmig und fern klingen läßt, während rechts vorne ein dreister, leiser Beat vor sich hin dotzt, in der dritten Strophe klingt ihre Stimme auf einmal warm und nah, zu ihr gesellt sich ein Kontrabass, und ihre Intonation passt sich der temporären Jazzatmosphäre an, bevor das Ganze dann wieder explodiert und in meines Erachtens sieben Stimmen gen Ende strebt - Generalpause, Schlußakkord: 2 Minuten und 16 Sekunden braucht sie für dieses Meisterwerk. In "au port" erklingt auf einmal für genau eine Bridge eine Steeldrum, völlig absurd, passt da gar nicht hin, muß da aber genau sein, im selben Stück groovt mit einmal ein entspannter Bläsersatz - gibt es vorher nicht, muß da aber hin.

Das Große, das Kühne an dieser Platte ist, daß sie gedacht ist, es ist keine Ansammlung von Liedern, sondern man merkt: So wie diese Platte ist, wie sie klingt, wie sie gebaut ist, so wollte Camille sie, sie hatte sie im Blick, im Ohr, im Herz, und sie hatte die Mittel, sie so klingen zu lassen. Nach 32 Minuten kommt es zu einer derartig sympathisch kitschigen Explosion ins ironisch sphärisch Ungefähre, daß einem Angst und bange wird, nach 35 Minuten, und ich habe selten solch aufregende 35 Minuten am Stück gehört, läßt sie das Album ausklingen, läßt den Dreiklang, den roten Faden stehen, um uns nach genau derselben Zeit, nach 35 Minuten mit einem recht unversteckten hidden track zu beschenken - was für ein Glück! Was für eine Platte! Mehr als die Platte des Jahres, eine der besten Popplatten überhaupt.

Zum lesen: www.popticker.de
Zum hören: www.poptickerpod.de
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